Naturfotokunst Anthologie Nr. 3: Die Fichtenwälder des Westerwaldes – eine Retrospektive

Nicht zuletzt wegen der kargen Böden und des ungünstigen Klimas galt der Westerwald in früheren Zeiten als „Land der armen Leute“. Nach den Verwüstungen des zweiten Weltkriegs wurden auf riesigen Flächen die als „Brotbaum“ gepriesene Fichte angepflanzt. Den Verheißungen eines möglichst schnellen Gewinns folgend wurden Fichten überall dort gepflanzt, wo Platz war: auf Kahlschlägen, in Talauen, Heiden und Niedermooren. Mancherorts wurden in der Nachkriegszeit gar gesunde Laubwälder gerodet, um dort Fichten zu pflanzen.

Neben allen bekannten ökologischen Nachteilen, die die großflächigen Fichtenmonokulturen mit sich brachten, wuchsen ebenso Waldlebensräume heran. Diese wiesen zwar vergleichsweise artenarme, aber doch bemerkenswerte, montan anmutende Lebensgemeinschaften auf. Die Fichte im Westerwald hat in den letzten Jahrzehnten sowohl die Landschaft, als auch die Vorstellung der Nachkriegsgenerationen von Wald und Natur geprägt. Nach den jüngsten Hitzesommern sind in nicht einmal einer Pentade nahezu alle alten und mittelalten Fichten abgestorben. Damit ist ein Lebensraumtypus verloren gegangen und das Antlitz der Landschaft hat sich ebenso schlagartig wie grundlegend geändert. Grund genug für eine wehmütige fotografische Retrospektive auf eine verlorene gegangene Welt und einen zaghaften Blick in eine ungewisse Zukunft. (Hatterter Kopf, Westerwald 2018)


„Waldreligion“ 

Drei moosüberwachsene Basaltfelsen auf einer kleinen Lichtung in einem dunklen, winterlichen Wald wirken wie ein Altar in einer Kathedrale von Fichten. Die dunklen Fichtenwälder des Westerwaldes waren häufig Orte, die mit ihrem monumentalen, unverrückbar erscheinenden Charakter von Stille, Strukturierung und Dunkelheit zur inneren Einkehr einluden. (Westerwald, Marienberger Höhe 2018)


„Auf der Waldbühne“ 

In der Stille der Fichtenwälder befängt den Waldwanderer eine besondere Ruhe. Vielleicht ist es diese Ruhe, die die Singvögel der Fichtenwälder so wenig scheu sein lässt. Trotz dieser Vertrautheit tragen Wintergoldhähnchen (Regulus regulus) nur sehr selten so frei sitzend, wie im Foto gezeigt, ihren leisen Gesang vor. Im Westerwald wurden infolge des hitze- und   trockenheitsbedingten Fichtensterbens schätzungsweise 90 Prozent der Lebensräume des stark an die Fichte gebundenen Wintergoldhähnchens zerstört. (Westerwälder Seenplatte 2021) 


 „Es werde Licht…“ 

Der Winter 2017 / 2018  war im Hohen Westerwald besonders dunkel. Im Dezember 2017 galt Bad Marienberg mit 1,7 statt 38 Sonnenstunden gar als trübster  Ort Deutschlands. Ende Januar zeigte sich an der Kleinen Nister erstmals wieder die Sonne. Aber auch außerhalb dunkler Winter fand die Sonne in Fichtenwirtschaftswäldern nur an wenigen Stellen einen Weg zum Boden. Extreme Bedingungen, in denen nur wenige Pflanzen wie beispielsweise  der Sprossende- oder der Keulen-Bärlapp als botanische Besonderheiten leben konnten. (Kleine Nister, Hoher Westerwald 2018)


"Aus Urzeiten" 

Bärlappe stellen eine uralte Pflanzenordnung dar, deren Geschichte sich 420 Millionen Jahre zurückverfolgen lässt. Der im Foto gezeigte Sprossende Bärlapp (Spinulum annotinum) ist eine Pflanzenart die schattige, stark saure, sehr nährstoffarme und bevorzugt subalpine Standorte benötigt.  Der Bestand dieser gefährdeten und besonders geschützten Gefäßpflanzenart am Hatterter Kopf wies mit ca. 150 m² eine bemerkenswert große Ausdehnung auf.  Die widerstandsfähigen Pflanzen konnten die Hitzesommer und das Absterben der alten Fichten überstehen.   Der Bärlappbestand überlebte letztendlich aber nicht den Einsatz von Holz-Erntemaschinen im Landesforst, die den Bestand wohl für immer zerstörten. (Hatterter Kopf 2018)


„Auf Gedeih und Verderb...“ 

Haubenmeisen (Lophophanes cristatus) gelten als ausgesprochen standorttreue Vögel. Auf Gedeih und Verderb harren Haubenmeisen auch auf völlig abgeräumten Kahlschlagflächen aus und brüten dabei in einzeln stehengeblieben Bäumen oder Stümpfen. Möglicherweise vertrauen die Meisen darauf, dass wieder ein neuer Nadelwald heranwächst, der ihnen eine Zukunft bietet. (Westerwälder Seenplatte 2022)


„Im Bergwald“

Die Aufnahme eines reich strukturierten, lichtdurchfluteten Fichtenwaldes mit verschiedenen Altersklassen, Totholz, einer reichen Moosflora und einzelnen Laubbäumen. Dieser Wald war Lebensraum von Fichtenkreuzschnabel, Erlenzeisig, Tannenhäher, Raufuß- und Sperlingskauz (Gietzebeul, Westerwälder Seenplatte 2016)  


„Aus der Welt gefallen“

Dieser junge Raufußkauz (Aegolius funereus) überschätzte möglicherweise seine Flugkünste beim Verlassen der Bruthöhle und scheint damit aus seiner bisherigen Welt gefallen zu sein. In guten Mäusejahren war der Raufußkauz kein häufiger, aber regelmäßiger Brutvogel in den Fichtenwäldern rund um die Westerwälder Seenplatte. (Westerwälder Seenplatte 2017)


"Waldohreulenfamilie"

Dort, wo sich im Westerwald die Fichtenwälder an Lichtungen, Kahlschlägen und Waldweiden öffneten, fanden Waldohreulen (Asio otus) ideale Lebensraumbedingungen. Wie sich die Bestände infolge der radikalen Öffnung der Wälder durch das Fichtensterben kurz- und langfristig entwickeln werden, ist unklar. Jüngst deutete sich in Rheinland-Pfalz aber eine Zunahme an. Jedenfalls konnte sich diese Familie mit einer Brut in einer freigestellten Lärche auf Ihre hervorragende Tarnung verlassen. (Hoher Westerwald 2023)


"Immergrün?"

Immergrün? Verlorene Fichtenwälder im Westerwald auf der Marienberger Höhe, an der Kleinen Nister, im Oberen Wiedtal, am Wölferlinger Kopf  und am Hatterter Kopf. 


"Baumpieper“ 

Der Baumpieper (Anthus trivialis) verschwand in den letzten Jahren zunehmend aus seinen Lebensräumen in der Offenlandschaft. Infolge dessen wurde die Art in der Roten Liste der Brutvogelarten in Rheinland-Pfalz 2014 als „stark gefährdet“ eingestuft.  Mit dem Absterben der Fichtenwälder entstanden große Freiflächen, die der Baumpieper als Bruthabitat nutzt. Mit der Wiederaufforstung der Flächen wird dieser Lebensraum aber nur kurzfristig Bestand haben. Zu den Vogelarten, die vom Absterben der Fichtenwälder im Westerwald scheinbar kurzfristig profitieren, gehören bspw. Grauschnäpper, Schwarzkehlchen, Sommergoldhähnchen, Neuntöter und Wespenbussard. (Hoher Westerwald 2023)


"Die Gunst der Stunde" - die Profiteure der aktuellen Entwicklung

Die aktuellen Profiteure des Fichtensterbens: Mönchsgrasmücke (Silvia atricapilla) , Sommergoldhähnchen (Regulus ignicapilla), Schwarzkehlchen (Saxicola rubicola), Neuntöter (Lanius collurio), Grauschnäpper (Muscicapa striata),  Zaunkönig (Troglodytes troglodytes)


"Abendstimmung am Hatterter Kopf"

Abendstimmung am Hatterter Kopf im September 2022, am Ort der ersten Aufnahme dieser Retrospektive. Der 2018 noch vorhandene dunkle, uniforme Fichtenwald ist abgestorben. Sein schroffer Zauber ist verflogen. Ebenso sind die gezeigten Fichtenwälder auf der Marienberger Höhe, an der Kleinen Nister, am Gietzebeul und am Heidenberg heute Geschichte.  Abertausende nadelwaldgebundende Singvögel, wie Wintergoldhähnchen, Tannen- und Haubenmeisen oder Waldbaumläufer haben ihre Heimat verloren. Dort, wo vor wenigen Jahren noch an kalten, schneebedeckten Februartagen und -nächten Tannenhäher Sperlings- und Raufußkauz riefen, leben heute Neuntöter, Grauschnäpper, Baumpieper und Wespenbussard. Die Wälder werden sich wieder schließen und neue Lebensgemeinschaften werden einen hoffentlich älter werdenden Wald besiedeln. Es besteht die Chance, dass hier neue große, zusammenhängende und widerstandsfähige Wälder heranwachsen, die ein Hort der Artenvielfalt, der beste Beitrag zum Klimaschutz und ein Ort der Ruhe für Menschen sein werden. Diese Hoffnung wirkt in Anbetracht der aktuellen politischen Planungen bereits wie eine nahezu verlorene Utopie. Allen im Beitrag gezeigten, im 20. Jahrhundert durch Raubbau und Monokulturen geschundenen Waldgebieten droht nun mit der großflächigen industriellen Überbauung durch Wind- und Solarindustrie die dritte und mit Abstand folgenschwerste Welle der jüngeren Wald-Lebensraumzerstörungen. 


Diese Anthologie ist in kürzerer, leicht abgeänderter Version im Naturschutz-Magazin Heft 3 / 2024 erschienen.